Siebzig Jahre (1869 – 1939) entfalteten drei Generationen der Breslauer Architektenfamilie Grau (Albert, Erich und Erwin) in Niederschlesien eine rege Bautätigkeit, die seit einigen Jahren Gegenstand meiner ebenso schwierigen wie langwierigen heimatlichen Untersuchungen ist. Ausgelöst wurde mein Interesse an diesen Bauten durch die Freundschaft mit einer der letzten Nachkommen dieser Familie, mit Helga Dester, geb. Grau, die im Jahre 1950 mit ihrer Mutter Matilde Grau, geb. Sindt, im zarten Alter von elf Jahren nach Australien ausgewandert ist. Helga, die uns – meiner Frau Barbara und mir – eine echte Freundin geworden ist, besucht uns alle zwei Jahre bei ihren Flugreisen nach Europa jeweils mehrere Tage. Wir fuhren mit ihr zusammen im Jahre 2005 auch im eigenen Pkw nach Schlesien und besichtigten einige Bauwerke ihres Urgroßvaters und Großvaters in Breslau, vor allem aber in Jannowitz, wo Opa Erich Grau in den Jahren 1896/97 für seine Eltern Albert und Margarelhe Grau, geb. Bayer, im Minzetal die Villa Grau erbaute, ein herrliches Haus im Tiroler Stil.
Von diesem Haus, dessen deutsche Geschichte für die Jahre 1897 – 1924 ausführlich und vorbildlich dokumentiert ist, soll hier die Rede sein. Aber woher stammt unser so umfangreiches Detailwissen über dieses Haus, seine Erbauung, seine Bewohner und seine Gäste? Nun, Helga Dester brachte mir im Jahre 2001 aus Keilor East im Staate Victoria (Australien) leihweise das Original der „Chronik des Hauses Grau in Jannowitz Rsgb.“ mit. Ihre Mutter hatte das einzigartige Stück (damals vor über 50 Jahren) nach Australien mitgenommen, als sie dorthin auswanderte, um es zu retten. Ich habe davon vor der Rückgabe sogleich fünf Kopien angefertigt und außerdem ein Vorwort, ein alphabetisches Stichwortregister und die Umschrift aller in deutscher Sütterlin-Schrift angefertigten Texte hinzugefügt. Dadurch sind, sorgfältig gebunden, aus diesem Buch zwei Bände geworden (Band 1:1894 – 1910; Band2: 1911 – 1924). Anno 1924 endet das Hausbuch (leider), denn es wurde dem Ehepaar Erich und Eugenia Grau, geb. Tiesler, zu dessen Silberhochzeit am 28.4.1925 als Geschenk überreicht, und zwar von Autorin, Mutter und Schwiegermutter Margarethe Grau, die am 16.11.1856 in Liegnitz geboren wurde und am 29.10.1926 in Breslau starb. Die fünf Exemplare der (meinerseits erweiterten) Hausbuchkopien sind z. T. in die führenden ostdeutschen Bibliotheken in Herne, München etc. gegeben worden, damit sie der Wissenschaft fortan zu Forschungszwecken und allen Interessenten überhaupt zur Verfügung stehen.
Die Vorgeschichte des Hauses Grau in Jannowitz beginnt im Jahr 1894 mit einem Gedicht von Margarethe Grau über den Baugrund, die sog. Geisterwiese. Am 20. Juli 1897, dem Elias-Tag, wurde das fertige Haus dann eingeweiht. Aus diesem Anlass verfasste die Tochter Ilse Grau für das Hausbuch ein „Tischlied“ nach der Melodie „0 alte Burschenherrlichkeit“ mit der Anfangszeile: „In Breslau lebt ein Architekt. . .“. Es erzählt in Reimen die Baugeschichte, die schon im Mai 1896 begann Die Villa war als Altersruhesitz für Albert und dessen Ehefrau Margarethe Grau gedacht. Albert Grau starb jedoch schon am 4. September 1900 in Breslau. Ihnen beiden sollte die „Landluft herrlich munden“, wie es im Tischlied heißt.
Bei der Einweihungsfeier wurde ein kleines Theaterstück aufgeführt, in dem Erich Grau als ein Steinmetz des 13. Jahrhunderts auftrat. Die Töchter Irene und Erika wirkten mit und brachten Brot und Salz, während Ilse und Arno eine Kanne und den Willekummbecher reichten. Eugenia (,‚Genie“) Grau übergab feierlich den Weihetrunk und zitierte den Weihespruch, der dreiWünsche enthielt: 1. dass die Kinder fröhlich „ein offenes Haus halten“ mögen, 2. dass der Gast hier Ruhe und Rast finde und 3. dass Gott das Haus vor „Feuersgefahr und Wassernot“ behüten möge.
Die Wiedergabe der vielen, von Margarethe Grau handgezeichneten farbigen Seiten erforderte bei der Herstellung der Hausbuchkopien besondere Sorgfalt, denn sie mussten alle mit modernsten Mitteln (Computer, Scanner, Drucker) vervielfältigt werden. Dies trifft auch auf zwei Farbtafeln zu, auf denen fünf Zimmer des Hauses originalgetreu abgebildet sind: Halle, Esszimmer, Vaters Zimmer, Mutters Zimmer und das Gastzimmer. Im Esszimmer stand neben der Tür ein herrlicher großer, grüner Kachelofen. Das Haus sollte ein „Nest sein, in dem sich‘s ausruhn lässt von der schweren Arbeit des Lebens“, wie es in den Versen heißt, die Großmutter Louise Bayer im Juli 1897 ins Hausbuch schrieb, ehe sie am 20.1.1907 verstarb.
Markante Stellen am Haus erhielten wohlklingende Namen, z.B. die Silberlehne, die Steinbank, das „Bergel“ und die Insel im See vorm Haus. Sogar alle Hühner – es waren neun an der Zahl – bekamen schöne Namen, die z. T. aus der griechischen Antike entliehen wurden: Achilles, Griseldis, Klotho, Lachesis, Athropos, Leukornea, Blanka, Nora und Heinrich. Der Haushund hörte auf den Namen „Dergl“. Auch drei Gänse schnatterten im Garten umher.
Gebaut wurde das Haus als Sommersitz für die Familie von Albert Grau nach einem Entwurf von Sohn Erich. Ausgeführt wurde es von Maurermeister Will (Jannowitz) und Zimmermeister Dannert (Schönau). Die Gartenanlagen waren ein Werk von Obergärtner Schütz (Breslau). Es gab zwei Teiche, die vom Minzebach (oder Münzbach) durchflossen wurden; das „Bergel“ entstand künstlich durch Ausschachten. In dem größeren der zwei Teiche schuf der Gärtner eine kleine Insel, und über den Bach führten insgesamt fünf Brücken. Fräulein Nees von Esenbeck, Nachfahrin des ehemaligen Direktors des Botanischen Gartens in Breslau, Prof. Dr. Chr. Gottfr. Daniel Nees von Esenbeck (1776 – 1856), stiftete einen Kastanienbaum, und am Gartentor wehten zwei Fahnen: eine gelb-weiße schlesische und eine rot-weiße hessische, denn Albert Grau war am 24.4.1837 in Kassel geboren. Oben am Hausgiebel wurde ein Glöcklein angebracht, das jedes Mal geläutet wurde, wenn ein Gast kam oder abreiste, aber auch an Fest- und Feier der Familie.
Die Villa Grau barg auch eine kleine Wohnung (2 Zimmer, 1 Keller) für die „Hausleute“. Aber Wasser musste von einem Brunnen geholt werden und zur Beleuchtung dienten anfangs Kerzen und Petroleumlampen und ab 1909 Spiritus-Glühlichtlampen. Erst im Herbst 1921 installierte Erich, nachdem ihn am 10. September das Haus feierlich übergeben worden war, elektrisches Licht.
Oft ist im Hausbuch die Rede von der wildromantischen Bolzenburg, die oberhalb der Villa Grau liegt, und zu der man gern Spaziergänge unternahm. Die Bolzenburg ist die Ruine eines Schlosses, das im Jahre 1374 in 561 Metern Höhe von einem Ritter aus dem Geschlecht der Bolz (oder Polz) erbaut und bewohnt wurde. Später haben es die Hussiten besetzt, weshalb die Schweidnitzer das Schloss 1433 belagert und zerstört haben. Im Jahre 1519 wurde es zwar wieder aufgebaut, aber schon 1643 haben es die Schweden unter General Torstenson in Trümmer gelegt. Seit dieser Zeit ist es nun eine Ruine. Malerisch sind allerdings noch die drei Burghöfe, die man hinter einer Wallbrücke durch das große Tor betritt. Im letzten Hof befanden sich die Wohnung des Kastellans und ein Restaurant. Von der höchsten Stelle der Mauerkrönung, zu der Holztreppen hinaufführten, genoss man einen herrlichen Ausblick auf das Bober- Katzbach-Gebirge und die Schneekoppe. Ein Teil des Bergfrieds ist erst in neuerer Zeit eingestürzt. Die Ruine ist aber in jedem Fall ein prächtiges Gemisch aus Granitfelsen und Burgresten, die, wie eine uns überlieferte Federzeichnung beweist, miteinander verwachsen zu sein scheinen. Ein schönes Gedicht über die Bolzenburg findet sich in den Aufzeichnungen über das Jahr 1904 im Hausbuch von Ilse Grau (Seite 127 – 129).
Das Minztal (auch Münztal genannt) ist übrigens nach dem häufigen Vorkommen der Wasserminze (Mentha aquatica L.) benannt worden. Das versteckte, feuchte Waldtal diente im Dreißigjährigen Krieg den Bewohnern der umliegenden Orte als Zufluchtsstätte.
Der rotbraune Sandsteinkopf von Albert Grau, eine naturgetreue Nachbildung, ist erst im Jahre 1902, also zwei Jahre nach dessen Tod, an der Hauswand über dem Esszimmerfenster angebracht worden. Er ist bis heute erhalten geblieben, allerdings ist in der Mitte des Bartes am unteren Rand ein etwa dreieckiges Stück herausgeschlagen worden.
Nicht unerwähnt lassen möchte ich die prominenten Persönlichkeiten, die im Haus Grau als „treue Freunde der Familie“ zu Gast waren: drei Kunstmaler (Robert Sliwinski, gest. am 4.9.1902, Prof. Arnold Busch aus Breslau, gest. 1951 in Cismar, und Dedo Carmiencke, gest. 1906 in Berlin), drei Ärzte (Sanitätsarzt Dr. Caro, gest. am 23.11.1903 in Breslau, Dr. med. Oskar Dyhrenfurth und Sanitätsrat Dr. med. S. Graetzer) sowie Hans Horst von Richthofen aus Schmellwitz bei Canth (Ostern 1924).
In den Jahren 1912 bis 1914 weilte Erich Grau besonders oft in Jannowitz, weil er hier im Ort ein Schulhaus (1912/13) und das Wohnhaus von Dr. Schiller (1914) erbaute, die an anderer Stelle einmal behandelt werden sollen. Am 15. Juli 1917 läutete die Glocke der evangelischen Kirche von Jannowitz zum letzten Male, bevor sie eingeschmolzen und zu Munition verarbeitet werden musste. Und am 20. Juli 1922 fand im Haus die letzte große Familienfeier statt: ein Fest anlässlich des 25-jährigen Bestehens der Villa Grau.
Alle Vorkommnisse nach 1924 sind – bedauerlicherweise – nur bruchstückhaft und mündlich überliefert bzw. von Helga Dester in wenigen Eckdaten festgehalten worden. Anfang Juli 1939 wurde Helga Grau (am 30.6.1939 in Breslau als Tochter von Joachim und Mathilde Grau geboren) im Garten der Villa Grau in Jannowitz getauft. Sogar ein Taufbecken war vorhanden. Großvater Erich ritzte im Erker des Hauses mit seinem Brillantring die Taufdaten ins Fensterglas. Am 31. Oktober desselben Jahres starb er im Alter von 64 Jahren in Breslau an einem Herzschlag. Er hinterließ eine völlig unselbstständig gewordene Witwe Eugenia. Zu seinen Lebzeiten hatte er ihr alle Arbeiten selbst oder durch Dienstboten abgenommen. Auch im Jahre 1945, als eine harte Realität die Menschen nicht nur im Riesengebirge aufschreckte, verkannte sie den Ernst der Lage. Im Sommer dieses Schicksalsjahres wäre sie beinahe verhungert, weil sie nicht wagte, die gefüllte... (hier fehlt Text) psychisch nicht verkraften. Sie starb als Heimatvertriebene in einer Nervenklinik am 13.11.1953 in Wunstorf (Niedersachsen) in geistiger Umnachtung. Die letzte deutsche Hausmeisterfamilie namens Bruchmann optierte für Polen.
Unter polnischer Verwaltung war das Haus unter kommunistischer Herrschaft etliche Jahre ein Kinderheim. In dieser Zeit ist ein Kind im Forellenteich ertrunken, woraufhin man das Gewässer kurzerhand zuschüttete. Ansonsten wurde das ganze Anwesen total heruntergewirtschaftet. Nach der politischen Wende erwarb ein Pole namens Jan Kaczorowski das verkommene Haus und Grundstück mit Geld, das er als Unternehmer mit seiner Baufirma im Odenwald nahe Worms erwirtschaftet hatte, renovierte den Bau äußerlich, gab ihm einen roten Anstrich und baute die Villa auch innen um, z. B. durch Ausbau des Dachgeschosses und Einrichtung kleiner Räume für Urlaubsgäste. Leider ist der Geschäftsmann trotz seiner guten Deutschkenntnisse weder historisch interessiert noch menschlich zugänglich.
Dies ist die gewiss unvollständige, aber wahre Geschichte der Villa Grau in Jannowitz – ein Spiegelbild deutschen Schicksals in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, tragisch und unverdient hart im Absturz in die Unmenschlichkeit, ja menschenverachtend. Seine Bewohner mussten unendlich viel Leid ertragen, wenn sie daran nicht zerbrochen sind.
Dieser Bericht von Horst G. W. Gleiß erschien in der Schlesischen Bergwacht in der August- und in der September-Ausgabe 2010. Der Verfasser, Herr Gleiß, und die Verlegerin der Schlesischen Bergwacht, Frau Christiane Giuliani, erteilten mir die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung.
In der Oktober-Ausgabe der Schlesischen Bergwacht stand folgende Korrektur:
Richtigstellung zum Bericht „Die Villa Grau“
Meine Eltern Frieda und Gustav Bruchmann waren von 1929 bis zur Vertreibung Hausmeister bei der Familie Grau. Mein Vater ist 1945 im Krieg gefallen.
Wir, d. h. meine Mutter, mein Bruder und ich wurden am 23. Mai 1946 ausgewiesen und kamen am 5. Juni 1946 in Einbeck in Niedersachsen an.
Dass, wie in dem Artikel behauptet, „die Hausmeisterfamilie Bruchmann optierte für Polen“ ist die Unwahrheit und bedarf dieser Richtigstellung!
Dora Weddig, geb. Bruchmann