Reise in die Heimat der Vorfahren
– Aus Chile ins Hirschberger Tal, ein Erlebnisbericht –
In den Jahren 1856 –1860 hatten insgesamt 55 von 416 Zillertaler Protestanten, die 1837 wegen ihres Glaubens aus Österreich vertrieben nach Erdmannsdorf gekommen waren, ihre Wahlheimat Schlesien in Richtung Chile wieder verlassen. Heute leben rund 600 Nachkommen von ihnen in Chile. Die heutigen Namensträger Fleidl, Hechenleitner, Heim, Klocker, Kröll und Schönherr sind der lebende Beweis für den Fortbestand der Zillertaler Kolonie in diesem Land Südamerikas. Es dürften inzwischen an die 600 Tiroler Nachkommen in Chile leben. 26 von ihnen kamen nun im Juni 2009 nach Europa, um das Land ihrer Vorfahren kennen zu lernen. Dr. Horst Berndt berichtete darüber in „Schlesien Heute“.

Organisiert hatte diese Reise der in Chile lebende pensionierte Studiendirektor Klaus Weidinger. Er schickte nun an den VSK einen Bericht über die Eindrücke von dieser Reise. Besonders gedachte er dabei auch des Anführers der Zillertaler Protestanten, Johann Fleidl. Es war für die Chilenen aber auch ein Erlebnis, in den Kirchenbüchern der Kirche Wang Eintragungen ihrer Vorfahren zu finden, doch auch die im Tiroler Stil errichteten Häuser zu sehen. Aus diesem Bericht sollen hier nun Auszüge wiedergegeben werden.

So schreibt Klaus Weidinger über den 1. Tag in Erdmannsdorf:
Die Führung am 15. Juni durch das frühere Zillerthal-Erdmanndorf übernahm Dr. Horst Berndt. Das bekannte Denkmal von Johann Fleidl, das auf dem Vorplatz des Erdmanndorfer Schlosses steht, trägt auf seinem Sockel die Inschrift „Ein feste Burg ist unser Gott“; es ist ein Zitat aus dem Reformationschoral Martin Luthers. Johann Fleidl, dessen Großvater noch die Salzburger Emigration erlebt hatte . . . war der geistige und politische Anführer der Zillertaler Emigranten. Er war als Deputierter und Sprecher der Zillertaler im Mai 1837 eigens nach Berlin gereist, um dem preußischen König die Bittschrift um Aufnahme seiner Tiroler Glaubensgenossen persönlich zu überreichen . . . Wie wir wissen, fand Fleidl beim König Gehör, und er erhielt für seine Rückreise, die er am 6. Juni 1837 antrat, aus der königlichen Schatulle 10 Friedrichsd’or, also 10 preußische Goldtaler. Bereits am 13. Juni kam Fleidl zuhause an, wo man ihn mit höchster Spannung erwartete . . .

Nach der Ankunft der Zillertaler in Schmiedeberg, wo sie bis zur Fertigstellung ihrer Häuser ein Jahr lang notdürftig untergebracht waren, legte Fleidl in der dortigen evangelischen Kirche – sie ist 1959 abgebrannt – am 12. November 1837 im Namen aller Tiroler Einwanderer ein Glaubensbekenntnis ab . . . Mit diesem Glaubensbekenntnis erbrachte Fleidl den Nachweis, dass die aus dem katholischen Tirol eingewanderten Zillertaler de facto Lutheraner waren und somit als vollwertige Mitglieder in die evangelische Kirche Schlesiens aufgenommen werden konnten.

Fleidl hatte das Weber- und Schuhmacherhandwerk gelernt, daneben besaß er eine gründliche Kenntnis der Heiligen Schrift, seine Redegewandheit paarte sich mit einem scharfen Verstand. Das Ansehen, das er unter den Leuten genoss, war allein seiner Persönlichkeit zuzuschreiben. Als überzeugter Anhänger der lutherischen Lehre trug er auch in Glaubensfragen für seine Leute die Verantwortung.

Das Fleidl-Denkmal, das anlässlich des 50-jährigen Jubiläums der Einwanderung 1890 vor dem Erdmannsdorfer Friedhof errichtet wurde, erlitt nach der Vertreibung der Deutschen schwere Schäden. 1994 wurde es restauriert und zum besseren Schutz im Vorhof des Erdmannsdorfer Schlosses neu aufgestellt. Johann Fleidl ist auf dem Friedhof von Erdmannsdorf beigesetzt, seine nach Chile ausgewanderte Schwester Elisabeth, Mutter des bereits 1856 nach Chile gezogenen Jakob Brugger, fand dagegen ihre letzte Ruhe auf dem Tirolerfriedhof von Los Bajos . . .

Zu den Besichtigungen der Besucher aus Chile gehörten auch die Kirche und der Friedhof von Erdmannsdorf: „Der preußische König Friedrich Wilhelm III. ließ in den Jahren 1836 – 38 am Rande des Schlossgartens eine evangelische Kirche nach Plänen des Baumeisters Karl Friedrich Schinkel errichten, die mit der Einwanderung der Zillertaler erweitert wurde. Das Gotteshaus ist seit der Vertreibung der Deutschen eine katholische Pfarrkirche und als solche auch entsprechend umgestaltet worden . . . Ein Besuch nebenan auf dem Friedhof machte uns zunächst ratlos. Nirgendwo ist ein Grabstein mit einer deutschen Inschrift zu finden. Der Grund, wie uns Dr. Berndt aufklärt, war das anfängliche Bestreben, den ebenfalls aus ihrer Heimat von den Russen vertriebenen Ostpolen in der neuen Umgebung alles zu „entdeutschen“, was auch nur im Geringsten an die deutsche Vergangenheit erinnerte. Dem waren in Erdmannsdorf auch alle Gräber mit deutschen Inschriften und das Denkmal von Fleidl zum Opfer gefallen. Den unversehrt gebliebenen Grabstein des im Jahre 1872 verstorbenen Thomas Kröll kann man heute im Museum des Tirolerhofes sehen.

Abgesehen von einigen Einkäufen, die wir in der Erdmannsdorfer Leinenfabrik machten, widmete sich unsere Gruppe am 16. Juni vor allem dem Besuch der Kirche Wang. Es handelt sich um eine norwegische Stabholzkirche aus dem südnorwegischen Vang, die 1841 vom preußischen König erworben und in Brückenberg bei Krummhübel am Fuße des Riesengebirges wieder aufgestellt wurde. Bei dem Bau wurden keine eisernen Nägel benutzt. Die Kirche besteht aus mit Harz getränktem Kiefernholz und ist damit äußerst widerstandsfähig gegen Witterungseinflüsse.

Die Kirche wurde bis zum Sommer 1946 von der dortigen evangelisch-lutherischen Gemeinde genutzt. Nach der Vertreibung der Deutschen bildete sich noch im gleichen Jahr eine kleine polnische evangelisch-lutherische Gemeinde, welche die Kirche bis heute für Gottesdienste, Trauungen, Taufen und Konzerte nutzt. Von Mai bis September finden hier für die Touristen auch Gottesdienste in deutscher Sprache statt. Die Kirche gilt als einer der touristischen Höhepunkte im Hirschberger Tal.

Ein weiterer Grund unseres Besuches der Kirche Wang war die Zusage von Pfarrer Pech, die im Pfarrhaus aufbewahrten Kirchenbücher der ehemaligen evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde von Zillerthal-Erdmannsdorf einsehen zu dürfen. Die Bücher enthalten alle wichtigen Eintragungen, welche die Zillertaler ab ihrer Ankunft in Schlesien betreffen; außerdem befinden sich in Wang die nachträglich von Wien ausgestellten und beglaubigten Geburtsurkunden der noch in Österreich geborenen Zillertaler Auswanderer. Ich nahm deshalb die einmalige Chance wahr und suchte bei meiner erneuten Reise ins Hirschberger Tal Ende Juli auch die Kirche Wang auf, um für unsere in Chile lebenden Zillertaler Nachkommen eine möglichst vollständige Dokumentation der Kirchenbucheinträge ihrer Vorfahren anzufertigen. Pfarrer Edwin Pech und seinem Vertreter, dem Theologie-Studenten Karol Dlugosz, sei an dieser Stelle ausdrücklich, auch im Namen aller unserer Tiroler Nachkommen in Chile, für ihr Entgegenkommen gedankt.

Besondere Beachtung fanden bei den Chilenen die im Tiroler Stil erbauten Häuser. So heißt es weiter in dem Reisebericht: „König Friedrich Wilhelm III. hatte zur Ansiedlung der Tiroler einen erheblichen Teil des königlichen Grundbesitzes zur Verfügung gestellt. Die neu errichteten Häuser, welche die Zillertaler ein Jahr nach ihrer Ankunft beziehen konnten, wurden im Stile der Häuser ihrer alten Heimat gebaut und unterschieden sich dadurch deutlich von den Bauernhäusern der schlesischen Umgebung. Etliche Tiroler Familien zogen aber auch in bereits bestehende und zum Verkauf angebotene Häuser ein. Haus Nr. 1 war sozusagen das Pilothaus, weil es gleichsam als Musterhaus für alle weiteren, noch zu bauenden Häuser der Tiroler diente. Sein Besitzer war Jakob Oblasser. Er erhielt als Einziger die Erlaubnis, in seinem Haus eine Gastwirtschaft zu betreiben.

Der VSK hat es sich zur Aufgabe gemacht, einige der typischen alten Holzhäuser zu erhalten und somit auch die Erinnerung an die Tiroler im Hirschberger Tal zu bewahren. Die auf beiden Seiten der früheren Tiroler Straße erstellten Tiroler Siedlungshäuser lassen erkennen, dass sich deren jetzige Bewohner des kulturellen Erbes, das ihnen die Zillertaler hinterlassen haben, zunehmend bewusster werden. Einige der Häuser sind von ihren Besitzern bereits liebevoll restauriert worden. Unser besonderes Interesse gilt der Balkoninschrift des Lublasser-Hauses „Gott segne den König Friedrich Wilhelm III.“ Der VSK ließ hier eine originalgetreue Replik des Schriftzugs als Balkonbrüstung anbringen. Das Original selbst wird im Tirolerhof aufbewahrt.

Der Tirolerhof (Dom Tyrolski) entstand durch die Initiative eines Südtiroler und eines Mayrhofer Investors. Sie erwarben den leer stehenden und dem Verfall preisgegebenen Rieserhof (im früheren Niederzillerthal die Tirolerstelle Nr. 37) in Erdmannsdorf und sanierten das Gebäude mit eigenen Mitteln, aber auch mit der Unterstützung durch die Zillertaler Auswanderergemeinden und das Land Tirol. An den Restaurierungsarbeiten beteiligte sich auch der polnische Konservator von Hirschberg. Die als Museumsrestaurant konzipierte Gedenkstätte ist gleichzeitig auch ein Ort der Begegnung und Versöhnung. Die Eröffnung des restaurierten Gebäudes erfolgte im Jahre 1998. Seit 1999 kann man auf der Empore des Restaurants eine vom VSK eingerichtete zweisprachige Dauerausstellung zur Geschichte der Zillertaler Protestanten im Hirschberger Tal besichtigen.

Am 16. Juni stand unter der Führung von Dr. Berndt die Besichtigung weiterer Häuser der Tiroler in Erdmannsdorf auf dem Programm: die „neue“ Tirolerschule, das frühere „Junggesellenhaus“, einige weitere, teilweise renovierte Tirolerhäuser und die alte Tirolerschule, in der noch der evangelische Lehrer Gustav Hahn seine Schüler unterrichtet hatte. Hahn kannte noch viele Zillertaler Einwanderer persönlich. So werden auch die nach Chile Ausgewanderten und deren Kinder, die er noch als Schüler hatte, in seiner zum 50-jährigen Jubiläum der Einwanderung erschienenen Denkschrift „Die Zillertaler im Riesengebirge“ genannt.

Insgesamt vier Tirolerhäuser, deren Familien nach Chile gezogen waren, konnte ich bei meinen Nachforschungen ausfindig machen. U. a. steht ganz in der Nähe der alten Tirolerschule auf der ehemaligen Stelle Nr. 40 ein sehr gut erhaltenes Haus. Hier lebte einst mit seiner Familie der aus Hollenzen bei Mayrhofen eingewanderte Bartholomäus Heim, ein weiterer „Rädelsführer“ in den Augen der Tiroler Obrigkeit. Sein Sohn Johann wanderte 1860 mit der Familie ebenfalls nach Chile aus. Nachweislich hatten sich den Tiroler Auswanderern, die nach Chile zogen, auch etliche schlesische Familien aus Erdmannsdorf und Umgebung angeschlossen. Ein Beispiel hierfür ist der Auswanderer Ernst Hornig aus Lomnitz, der mit seiner Familie und gemeinsam mit den Familien Klocker, Schönherr und dem Rest der Familie Hechenleitner im Jahre 1860 nach Chile übersiedelte. Der 83-jährige Nachfahre Heinz Hornig aus Frutillar lernte jetzt auf unserer Reise zum ersten Mal die schlesische Heimat seiner Ahnen kennen.